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Inspirationen aus den vielfältigen Weisheitstraditionen unserer Welt:


Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas.
Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit,
was nicht oder zu wenig gesehen worden ist.
Ich nehme den Menschen, der mir zuhört,
an der Hand und führe ihn zum Fenster.
Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.
Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.

Martin Buber

 


Die Brise bei Tagesanbruch
will dir Geheimnisse verraten.
Schlaf nicht wieder ein.

Du musst um das bitten,
was du dir wirklich wünschst.
Schlaf nicht wieder ein.

Menschen gehen hin und her
Über die Türschwelle,
wo die zwei Welten sich berühren.
Die Tür ist rund und offen.

Schlaf nicht wieder ein.

Sufiweisheit, In: Dschelaleddin Rumi, Offenes Geheimnis. München 1994, S.26


Öffne deine eigene Schatzkammer

Daiju besuchte den Meister Baso in China. Baso fragte: „Was suchst du?“
„Erleuchtung“, erwiderte Daiju.
„Du hast deine eigene Schatzkammer. Warum suchst du außerhalb?“, fragte Baso.
Daiju erkundigte sich: „Wo ist meine eigene Schatzkammer?“
Baso antwortete: „Das, was du fragst, ist deine Schatzkammer“.

Zengeschichte, in: Paul Reps, ohne Worte – ohne Schweigen. Bern 71989, S.49

 


Ich war sehr lange unterwegs und bin hier angekommen. Jetzt versuche ich zu sagen, was ich denke, aber es geht nicht. Ich würde gerne etwas über meinen Körper sagen, darüber, dass ich mir deutlicher denn je zuvor bewusst bin, dass es ihn nur ein einziges Mal gibt, dass er sich mit dem deckt, was ich „ich“ nenne, doch dann stoße ich an den Rand der Wörter …

Ich bin der Stille gleich, dem Sand, dem Sternenhimmel, das sagt man nicht, und man sagt auch nicht, ich bin nur ein Individuum, aber ich weiß zum erstenmal meinen Platz …

Ich bin hell und dunkel zugleich. Ich bin unerreichbar geworden, souverän. Wäre ich ein Musikinstrument, ich würde die schönste Musik hervorbringen… Ich stehe im Freien und sehe die Sterne nicht nur, sondern höre sie …

Ich bin angekommen. Und wenn ich wieder gehe, brauche ich nichts mitzunehmen, ich habe alles bei mir.

In: Cees Nooteboom, Paradies verloren. Frankfurt/Main 2005, S. 43ff

 


Lausche (denn) auf das Wunder! Wie wunderbar: draußen stehen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und (zugleich) das Geschaute selbst sein, halten und gehalten werden – das ist das Ziel wo der Geist in Ruhe verharrt, der lieben Ewigkeit vereint.

In: Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Hg. Von Josef Quint, München 1979, Predigt 28, S. 285

 


Ja, wie war das gestern abend in meinem kleinen Schlafzimmer? Ich war früh zu Bett gegangen und schaute durch das große, offene Fenster hinaus. Und mir war wieder, als wäre das Leben mit all seinen Geheimnissen mir sehr nahe, als könnte ich es berühren. Mir war, als ruhte ich an der nackten Brust des Lebens und hörte seinen leisen, regelmäßigen Herzschlag. Ich lag in den nackten Armen des Lebens und fühlte mich sicher und beschützt. Und ich dachte: wie sonderbar das doch ist. Es ist Krieg. Es gibt Konzentrationslager. Die kleinen Grausamkeiten häufen sich immer mehr. Wenn ich die Straßen entlanggehe, weiß ich von vielen Häusern, an denen ich vorbeikomme; dort ist der Sohn im Gefängnis, dort wird der Vater als Geisel gehalten, und dort ist das Todesurteil eines achtzehnjährigen Sohnes zu beklagen. Und diese Straßen und Häuser liegen ganz in der Nähe meines Hauses. Ich kenne die Verzweiflung der Menschen, ich weiß um das viele menschliche Leid, das sich immer mehr anhäuft, ich weiß von Verfolgung und Unterdrückung, von Willkür und ohnmächtigem Haß und von vielem Sadismus. Ich weiß das alles und behalte jedes Stückchen Wirklichkeit im Auge, das zu mir dringt.

Und dennoch – in einem unbewachten, mir selbst überlassenen Augenblick liege ich auf einmal an der nackten Brust des Lebens, und seine Arme legen sich weich und beschützend um mich, und sein Herzklopfen kann ich gar nicht schildern; es ist so langsam und regelmäßig und leise, fast gedämpft, aber auch treu, als wollte es nie aufhören, und auch so gut und so barmherzig.

Die holländische Jüdin Etty Hillesum, kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz

In: Etty Hillesum, das denkende Herz, Reinbeck bei Hamburg 1985

 

 

Kachel

 

Trübes Wasser wird klar

Trübes Wasser wird klar

wenn man es ruhig stehen lässt –

genauso kann man

mit Ruhe, Geduld und Zeit

die Wahrheit nach und nach

klar ans Licht treten lassen.

 

Laotse, China 6. Jhd. v.Chr.

 

Autor

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